eng
competition

Text Practice Mode

Das Licht über Nadarel – Teil 5: Die Halle aus Glas

created Nov 6th, 14:43 by Jorim Hirsbrunner


0


Rating

879 words
2 completed
00:00
Der Wind legte sich. Vor Elion breitete sich ein Plateau aus, hell wie polierter Stein.
Über ihm zogen graue Schleierwolken, durch die das Licht wie Wasser fiel.
Er ging langsam, Schritt um Schritt, bis der Boden unter seinen Füssen durchsichtig wurde.
Darunter lag eine Tiefe, doch sie war kein Abgrund sie war Licht.
 
Die Luft flimmerte, und aus der Ferne trat eine Gestalt hervor.
Sie war gross, aber nicht bedrohlich, gehüllt in ein Gewand, das aus Spiegelungen bestand.
Wo sie ging, verschob sich das Licht wie eine Welle.
 
„Willkommen in der Halle aus Glas“, sagte sie.
Ihre Stimme war warm, aber in ihr lag etwas, das älter war als Sprache.
„Du hast den Pfad der Stille überquert. Hier endet der Lärm der Welt.“
 
Elion sah sich um. Die Halle hatte keine Mauern.
Sie war ein Kreis aus gläsernem Boden, gehalten von Säulen aus schimmerndem Quarz,
die im Wind sangen, leise, fast wie Stimmen, die beten.
Am Rand des Kreises standen sieben Spiegel, jeder anders geformt:
rund, eckig, gewellt, hoch, schmal, breit und einer gebrochen.
 
„Was ist dieser Ort?“, fragte Elion.
 
„Hier ruht das Licht, das du suchst“, antwortete die Gestalt.
„Doch es zeigt sich nur, wenn du es nicht verlangst.“
 
Er trat näher an die Spiegel. In einem sah er sich selbst, klar und unverzerrt.
Im nächsten war er älter, mit grauem Haar und müden Augen.
Im dritten war er jung, kaum erwachsen,
voll Zorn und Stolz, wie er einst durch die Strassen von Nadarel gegangen war.
 
Er blieb vor dem gebrochenen Spiegel stehen.
Darin sah er nichts kein Gesicht, kein Licht, nur Leere.
„Was ist das?“, fragte er.
 
„Das ist das, was du nie anschauen wolltest“, sagte die Gestalt.
„Der Teil, der in dir blieb, als du gelernt hast zu schweigen.“
 
Elion legte die Hand an den kalten Glasrand.
Ein feines Zittern ging durch ihn.
Er sah einen Moment lang die Schatten seiner eigenen Entscheidungen:
die, die er traf, und die, die er vermied.
Das Gesicht eines Mannes, den er einst verraten hatte,
und das eines Kindes, das er nicht retten konnte.
Dann schloss er die Augen.
 
„Ich weiss“, flüsterte er. „Ich bin nicht ohne Schuld.“
 
„Keiner ist es“, antwortete die Gestalt.
„Doch nur, wer sie annimmt, kann das Licht tragen, ohne es zu verlieren.“
 
Ein Laut erfüllte die Halle kein Ton, sondern eine Schwingung.
Die Spiegel begannen zu leuchten, einer nach dem anderen,
und ihre Lichter trafen sich im Zentrum des Bodens.
Dort wuchs eine Form aus Licht, schwebend und klar.
Sie sah aus wie ein Stern, doch er atmete.
 
Elion trat näher. Der Splitter in seiner Brust begann zu glühen.
Er nahm ihn ab und hielt ihn in der Hand.
Das Licht aus dem Boden zog ihn sanft nach unten,
und der Splitter antwortete, als hätte er sein Gegenstück gefunden.
 
Die Gestalt aus Spiegelung trat zurück.
„Nun weisst du, warum du hier bist“, sagte sie.
„Das Licht von Nadarel sucht nicht, wen es verschlingt,
sondern wen es erinnert.“
 
Elion sah in den leuchtenden Stern.
Er erkannte keine Form, aber er fühlte ein Herz darin, das nicht seins war und doch im selben Takt schlug.
Er wollte fragen, wer oder was es war,
doch in diesem Moment legte sich ein anderes Licht über das erste.
Es war blasser, silberner, und es kam von oben.
 
Er hob den Blick. Über der Halle öffnete sich der Himmel,
und etwas fiel langsam herab keine Sonne, kein Feuer,
sondern eine Kugel aus reinem Glas, in der sich die Welt spiegelte.
Sie schwebte über ihm und sprach ohne Stimme:
 
„Das Licht gehört keinem Ort.
Es wohnt in den Händen derer, die es tragen,
und in den Schatten derer, die es vergessen.“
 
Elion senkte den Kopf.
„Wenn es so ist, warum zeigen sie mir das?“
 
„Weil Erinnerung nur hell bleibt, wenn sie geteilt wird.“
 
Dann begann der Boden zu beben.
Nicht zerstörerisch, sondern wie der Atem eines grossen Wesens.
Das Licht im Zentrum schloss sich, und der Splitter in Elions Hand verband sich wieder mit seiner Brust.
Ein kurzer Schmerz fuhr durch ihn,
doch als er die Augen öffnete, war die Gestalt verschwunden,
und nur der Klang der Säulen blieb,
ein leises Lied aus Glas und Wind.
 
Er stand allein in der Halle.
Aber sie war nicht leer.
In den Spiegeln sah er Menschen, die er kannte:
Serathiel, Liah, Quin, sogar Madara in der Ferne
alle blickten ihn an, nicht als Gegner oder Geister,
sondern als Teil eines Bildes, das grösser war als er.
 
„Ich bin nicht das Licht“, sagte Elion leise.
„Ich bin nur der, der es trägt.“
 
Er wandte sich zum Ausgang.
Dort, wo der Wind herkam, lag ein schmaler Pfad,
der hinab in eine Ebene aus goldenem Staub führte.
Er wusste, dass dort eine neue Prüfung wartete.
Doch zum ersten Mal hatte er keine Angst.
 
Er sah zurück auf die Halle, die nun langsam verblasste,
bis nur noch eine einzige Säule blieb,
auf deren Spitze das Licht brannte wie eine kleine Flamme im Morgengrauen.
 
„Möge sie bleiben“, sagte Elion. „Nicht für mich, sondern für die, die nach mir kommen.“
 
Dann ging er weiter, und der Wind nahm seinen Namen auf,
nicht als Ruf, sondern als Erinnerung.
 
Ende von Teil 5 Die Halle aus Glas.
(Fortsetzung folgt: Teil 6 Die Ebene des Staubs.)

saving score / loading statistics ...