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Das Licht über Nadarel – Teil 4: Der Pfad der Stille

created Nov 6th, 12:18 by Jorim Hirsbrunner


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Der Aufstieg begann sanft, doch bald wurde der Boden hart und kantig.
Elion ging zwischen grauen Felsen, die wie alte Wächter über den Weg wachten.
Der Wind kam von Norden, klar und trocken, und trug den Geruch von Stein und Schnee.
Weit unten lag das Tal der Erinnerung, still wie ein vergessener Traum.
Er spürte, dass er etwas hinter sich gelassen hatte nicht verloren, sondern verwandelt.
 
Die Sonne war blass, fast weiss, und der Himmel spannte sich weit über ihm.
Kein Vogel rief, kein Tier durchbrach die Stille.
Nur der Klang seiner Schritte hallte leise von den Felsen zurück.
Manchmal glaubte er, Worte in diesem Echo zu hören keine fremden, sondern seine eigenen,
lange vergangene Gedanken, die sich in der Luft verfangen hatten.
 
Er hielt an einem Vorsprung an.
Unter ihm lag eine weite Ebene aus grauen Steinen, in deren Mitte ein einzelner Baum stand.
Er war tot, doch sein Stamm glänzte silbern im Licht, als trüge er noch immer Erinnerung in sich.
Elion setzte sich auf einen flachen Stein und legte den Splitter auf die Knie.
Er glühte sanft, wie ein Herz, das schläft.
 
„Wie still du bist“, sagte Elion leise, „und doch bist du wach.“
Er wusste nicht, ob er mit dem Splitter sprach oder mit Gott.
Vielleicht war beides eins.
 
Ein Laut liess ihn aufblicken kein Schrei, kein Ruf, nur ein einzelner Ton,
so rein, dass er mehr fühlte als hörte.
Er klang wie Glas, das sanft anschwingt, wenn der Wind darüberstreicht.
Elion stand auf und folgte dem Klang.
 
Der Weg führte schmal zwischen Felsen hindurch.
Einmal blieb er stehen, weil sich der Pfad in zwei Richtungen spaltete:
nach rechts führte er bergauf, steil und offen,
nach links verlief er flach und verschwand unter einem Bogen aus Stein.
Der Klang kam von links.
 
Er folgte ihm.
 
Hinter dem Bogen öffnete sich eine kleine Ebene, von Schnee bedeckt.
In ihrer Mitte stand eine Gestalt.
Sie war nicht aus Licht, nicht aus Fleisch etwas dazwischen.
Ihr Gewand war grau, als bestünde es aus Nebel,
und ihre Augen waren klar wie Wasser im Winter.
 
„Du bist weit gekommen“, sagte sie.
Ihre Stimme war ruhig, nicht laut, aber sie erfüllte den Raum.
„Dies ist der Pfad der Stille. Wer hier geht, hört alles, was er in sich trägt.“
 
Elion nickte. „Ich weiss nicht, ob ich bereit bin, alles zu hören.“
 
„Niemand ist es“, antwortete die Gestalt. „Aber wer nicht hört, kann nicht tragen.
Und wer nicht trägt, verliert das, was ihm gegeben wurde.“
 
Sie machte eine Handbewegung, und der Schnee zwischen ihnen begann sich zu bewegen.
Er hob sich leicht, als würde der Wind darunter atmen,
und dann formten sich Linien, Kreise, Zeichen.
Elion erkannte einige sie stammten aus den Liedern der Aerani,
Symbole für Wind, Herz, Fluss und Zeit.
 
„Das sind Wege“, sagte die Gestalt.
„Kein Mensch geht sie alle, aber jeder Mensch hat einen davon in sich.“
 
Elion trat näher.
In der Mitte des Musters lag ein leerer Kreis.
Er setzte sich davor, legte den Splitter hinein und wartete.
 
„Was soll ich tun?“
 
„Nichts“, sagte die Gestalt. „Nur schweigen.“
 
Er schloss die Augen.
Der Wind wurde leiser, dann still.
In dieser Stille hörte er sein eigenes Blut rauschen,
das Schlagen des Herzens, das kaum mehr von seiner eigenen Stimme zu trennen war.
Dann kam etwas anderes: eine Erinnerung, so alt, dass sie keinen Namen mehr hatte.
Ein Wort, das er vergessen hatte zu sagen, als er jung war.
Er sprach es nun, leise, und die Luft vibrierte davon,
als hätte sie nur darauf gewartet.
 
Als er die Augen öffnete, war die Gestalt verschwunden.
Nur der Splitter lag noch da, und er leuchtete heller als zuvor.
Doch nicht grell es war ein warmes, stilles Leuchten,
wie das eines Feuers, das für niemanden brennt und doch alle wärmt.
 
Elion stand auf. Der Pfad führte weiter, schmal und hell.
Über ihm zogen Wolken, deren Unterseiten golden glühten.
Er nahm den Splitter auf und ging.
Die Feder, die Quin ihm gegeben hatte, ruhte in seiner Tasche.
Manchmal meinte er, sie zu hören kein Flattern, kein Rascheln,
sondern den Klang einer leisen Frage.
 
Nach einer Weile erreichte er einen Ort, an dem der Fels zu Glas geworden war.
Er spiegelte den Himmel, und jeder Schritt liess Wellen aus Licht entstehen.
In der Mitte dieses Feldes stand ein Stein mit einer Inschrift:
„Nur wer den Wind atmen hört, versteht, warum er weht.“
 
Elion lächelte schwach.
Er legte die Hand auf den Stein, und der Wind kam.
Nicht stark, nicht kalt, nur da.
Er wehte um ihn, als wolle er sagen: „Ich warte nicht. Ich bin.“
 
Elion verstand. Die Stille war kein Fehlen von Klang.
Sie war der Raum, in dem alles gehört werden konnte.
Er liess die Hand sinken,
und als er weiterging, klang in ihm ein einziger, klarer Gedanke nach:
 
„Der Weg ist nicht laut, aber er ruft.“
 
Ende von Teil 4 Der Pfad der Stille

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