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Zwangsstörungen

created May 26th, 10:47 by LPD24


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Leben bedeutet immer auch, Unsicherheiten zu ertragen. Man könnte mit dem Auto in einen Verkehrsunfall geraten, man kann sich anstecken mit einem gefährlichen Krankheitskeim, man kann vergessen, die Herdplatte auszumachen. Irgendwie müssen wir lernen, mit all diesen Risiken zu leben.
 
Manche Menschen können die Risiken allerdings kaum ertragen. Sie fangen an, sich unzählige Male die Hände zu waschen, sie kontrollieren alles Mögliche vor dem Verlassen des Hauses oder entwickeln andere seltsame Rituale, um diese Risiken zu bannen. Menschen mit Zwangsstörungen wissen meistens, wie übertrieben ihr Verhalten ist, aber sie können es einfach nicht lassen. Darum spricht man von Zwang.
 
Zwangsstörungen beinhalten zwei wichtige Phänomene: Zwangsgedanken und Zwangshandlungen. Zwangsgedanken sind unangenehme, sich aufdrängende und wiederholende Gedanken, Ideen oder Vorstellungen. Die Betroffenen können die Gedanken nicht kontrollieren. Sie schaffen es nicht, nicht an diese Ideen zu denken.
 
Viele Betroffene versuchen, diese Gedanken zu bekämpfen, zu neutralisieren oder sie loszuwerden. Sie entwickeln dann gedankliche Rituale, z.B. Ablenkungsstrategien durch Zählen oder neutrale Gedankenketten, die allerdings nur wenig erfolgreich sind. In der Regel handelt es sich bei den Zwangsgedanken um Gedanken und Inhalte, die dem Wertesystem der Betroffenen widersprechen.
 
Diese Gedanken werden als bedrohlich und stark verunsichern erlebt. Zwangshandlungen oder -rituale sind äußere oder mentale Handlungen, die Betroffene immer wieder ausführen müssen. Mit den Handlungen sollen befürchtetes Leid abgewendet, Unwohlsein vermieden oder vermeintliche Gefahren beseitigt werden. Zwangshandlungen stehen häufig in keinem realistischen Zusammenhang mit dem, was sie verhindern sollen. Sie nehmen viel Zeit in Anspruch, weil sie oft wiederholt werden müssen. Der Versuch, einer Zwangshandlung zu widerstehen, wird meistens von starker Angst begleitet.
 
Häufig auftretende Zwangshandlungen sind Wasch-, Kontroll- oder Ordnungszwänge. Sie sind gut beobachtbar und äußern sich in wiederholtem Kontrollieren der Wasserhähne und Elektrogeräte, dem unzähligen Waschen oder desinfizieren der Hände bzw. dem Sortieren und Ordnen von Dingen. Andere Zwangshandlungen laufen verborgen ab. Es sind gedankliche Prozesse, die z.B. zur Neutralisierung von tabuisierten sexuellen oder aggressiven Fantasien dienen.
 
Einige Merkmale sind jedoch bei nahezu allen Zwangsstörungen vorhanden:
- das emotionale Symptom ist in der Regel Angst
- die Zwangshandlung reduziert die Angst in gewissem Maße, zumindest für kurze Zeit
- nahezu alle Menschen mit Zwangsstörungen befürchten, dass ihnen selbst oder anderen Menschen durch ihre Schuld etwas Schlimmes zustoßen könnte
- Betroffene haben kaum Kontrolle über ihre Symptome
- Betroffene leisten Widerstand gegen Zwangsgedanken, z.B. durch Unterdrücken oder Rituale
- die Gedanken werden als fremdartig und bedrohlich erlebt
- Menschen mit Zwangsstörungen sehen ein, dass die Zwangshandlungen und -gedanken irrational sind
 
Menschen mit Zwangsstörungen leiden unter verschiedenen Denkverzerrungen. Informationen werden in einem ungünstigen Stil aufgenommen und bewertet. Ungünstig bedeutet hier, dass die Aufnahme und Bewertung zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwänge beitragen. Bspw. wird besondere Aufmerksamkeit auf Gefahrenreize gelenkt, die Betroffenen haben perfektionistische Leistungsansprüche oder sie übertreiben die eigene Verantwortung für schlimme Ereignisse.
 
Diagnostische Kriterien in der ICD-10 für eine Zwangsstörung:
- A = Es bestehen min. zwei Wochen lang Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen an den meisten Tagen
- B = Die Zwangsgedanken und -handlungen sind durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet
    > sie werden als eigene Gedanken bzw. Handlungen, d.h. nicht als fremdbeeinflusst, angesehen
    > sie werden als unangenehm erlebt und wiederholen sich dauernd, min. ein Gedanke bzw. eine Handlung wird als übertrieben und unsinnig erkannt
    > die Betroffenen bemühen sich, Widerstand zu leisten, wobei dies bei min. einem Gedanken bzw. einer Handlung erfolglos ist
    > die Ausführung der Zwangsgedanken oder -handlungen an sich ist nicht angenehm
- C = Die Symptome verursachen Leid oder schränken die Betroffenen in ihrer Leistung ein
- D = Eine psychotische oder affektive Störung kann als Ursache ausgeschlossen werden
 
Man geht davon aus, dass 2 bis 3% der Bevölkerung unter einer Zwangsstörung leiden. Damit gehört die Zwangsstörung zu den vier häufigsten psychiatrischen Erkrankungen nach den Angststörungen, Depression und Abhängigkeitserkrankungen.
 
Biologische Erklärungsansätze:
Sowohl bei Zwillingsuntersuchungen als auch bei Untersuchungen der Familiengeschichte gibt es Hinweise auf eine genetische Komponente. Die genetische Komponente scheint allerdings deutlich weniger wichtig zu sein als bei anderen psychischen Störungen.
 
Psychologische Erklärungsansätze:
Mowrer entwickelte ein Erklärungsmodell für die Entstehung von Angststörungen, das auch auf Zwangsstörungen übertragen werden kann. Das Modell geht davon aus, dass ursprünglich neutrale Reize auf der ersten Stufe durch eine Verknüpfung mit unangenehmen Reizen selbst zu angstauslösenden Reizen werden. Auf der zweiten Stufe wird die Angst aufrechterhalten, weil durch die Zwangshandlung bzw. das Vermeidungsverhalten z.B. die negativen Konsequenzen und negative Gefühle zurückgehen oder gar nicht erst auftreten.
 
Langfristig sollte der Betroffene lernen, sich dem Zwang entgegenzustellen und Schritt für Schritt Risiken einzugehen und Unsicherheiten zu ertragen: Eine Restunsicherheit wird bei allen Entscheidungen immer bleiben.
 
Für Menschen mit einer Zwangsstörung ist dieser Rest an Unsicherheit unerträglich. Verfolgen Sie darum das Ziel, dass der Betroffene auch mal Risiken eingeht, sich erlaubt, einen Fehler zu machen. Nur so können Selbstständigkeit und Autonomie gefördert werden. Dieses Ziel muss sich nicht auf den Bereich der Zwangsstörung beziehen.
 
Die Arbeit im alltäglichen Umgang sollte Betroffene ermutigen, verantwortlich soziale Beziehungen zu pflegen, alltagspraktische Aufgaben zu bewältigen, Freizeit aktiv zu gestalten und berufliche Aufgaben zu verfolgen.
 
Die wirksamste Therapie bei Zwangsstörungen überhaupt ist die Verhaltenstherapie. Das Prinzip besteht darin, dass sich der Betroffene unter Anleitung eines Therapeuten in für ihn bedrohliche Situationen begibt, bei denen Angst entsteht und Zwangsrituale ausgeführt werden müssen. Der Betroffene verzichtet bewusst auf die Ausführung von Zwängen und macht die Erfahrung, dass Angst und Anspannung nach einiger Zeit nachlassen. Dies ist das klassische Vorgehen im Rahmen einer verhaltenstherapeutischen Behandlung von Zwängen.
 
Bestimmte Medikamente werden bei der Behandlung von Zwängen eingesetzt. Insbesondere Medikamente, die den Botenstoff Serotonin beeinflussen, haben sich für einen Teil der Betroffenen als hilfreich erwiesen.
 
Viele Betroffene finden die Teilnahme an Selbsthilfegruppen sehr hilfreich. Sie erfahren dabei, dass sie nicht allein dastehen mit der Symptomatik und bekommen Tipps zum Umgang mit der Erkrankung und zu Behandlungsmöglichkeiten.
 
Mittlerweile gibt es viele empfehlenswerte Selbsthilfebücher und PC-gestützte Programme zur Hilfe im Umgang mit Zwangsbehandlungen und Zwangsgedanken.
 
Bei der Begleitung von Menschen mit Zwangsstörungen ist die Einbeziehung der Angehörigen besonders wichtig. Häufig sind Angehörige Teil des Zwangssystems geworden. Sie verstärken die Zwänge mitunter durch Rückversicherungen oder stellvertretende Kontrollen.

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