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Der Tunnel von Bernhard Kellermann (erste 9425)

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DER TUNNEL
BERNHARD KELLERMANN
1913
 
1.
Das Einweihungskonzert des neuerbauten Madison-Square-Palastes bildete
den Höhepunkt der Saison. Es war eines der außerordentlichsten Konzerte
aller Zeiten. Das Orchester umfaßte zweihundertundzwanzig Musiker, und
jedes einzelne Instrument war mit einem Künstler von Weltruf besetzt.
Als Dirigent war der gefeiertste lebende Komponist, ein Deutscher,
gewonnen worden, der für den einen Abend das unerhörte Honorar von
sechstausend Dollar erhielt.
 
Die Eintrittspreise verblüfften selbst New York. Unter dreißig Dollar
war kein Platz zu haben, und die Billettspekulanten hatten die Preise
für eine Loge bis auf zweihundert Dollar und höher getrieben. Wer
irgendwie etwas sein wollte, durfte nicht fehlen.
 
Um acht Uhr abends waren 26., 27. und 28. Straße und Madison Avenue
von knatternden, ungeduldig bebenden Automobilen blockiert. Die
Billetthändler, die ihr Leben zwischen den Pneumatiken von sausenden
Automobilen verbringen, stürzten sich, schweißtriefend trotz einer
Temperatur von zwölf Grad Kälte, Bündel von Dollarscheinen in den
Händen, tollkühn mitten in den endlos heranrollenden Strom wütend
donnernder Wagen. Sie schwangen sich auf die Trittbretter, Führersitze
und selbst Dächer der Cars und versuchten das Schnellfeuer der Motoren
mit ihren heiser heulenden Stimmen zu überbrüllen. "Here you are!
Here you are! Zwei Parkettsitze, zehnte Reihe! Ein Logenplatz! Zwei
Parkettsitze ...!!" Ein schräger Hagel von Eiskörnern fegte wie
Maschinengewehrfeuer auf die Straße nieder.
 
Sobald ein Wagenfenster klappte -- "Hierher!" -- warfen sie sich
blitzschnell wie Taucher wieder zwischen die Wagen. Während sie aber
ihr Geschäft abschlossen, Geld in die Taschen stopften, gefroren ihnen
die Schweißtropfen auf der Stirn.
 
Das Konzert sollte um acht Uhr beginnen, aber noch ein Viertel nach
acht warteten unabsehbare Reihen von Wagen darauf, bei dem in Nässe
und Licht schreiend rot leuchtenden Baldachin vorzufahren, der in das
blitzende Foyer des Konzertpalastes hineinführte. Unter dem Lärm der
Billetthändler, dem Knattern der Motoren und Trommeln der Eiskörner
auf dem Baldachin quollen aus den einander blitzschnell ablösenden
Cars immer neue Menschenbündel hervor, von den dunkeln Mauern der
Neugierigen mit stets neuer Spannung erwartet: kostbare Pelze, ein
funkelndes Haargebäude, aufsprühende Steine, ein seideglänzender
Schenkel, ein entzückender weißbeschuhter Fuß, Lachen, kleine
Schreie ...
 
Der Reichtum der fünften Avenue, Bostons, Philadelphias, Buffalos,
Chikagos füllte den pompösen, in Lachsrot und Gold gehaltenen
überhitzten Riesensaal, der während des ganzen Konzerts von Tausenden
von hastig bewegten Fächern vibrierte. Aus all den weißen Schultern
und Büsten der Frauen stieg eine Wolke betäubender Parfüme empor,
zuweilen ganz unvermittelt von dem nüchternen und trivialen Geruch
von Lack, Gips und Ölfarbe durchsetzt, der dem neuen Raum anhaftete.
Scharen und Aberscharen von Glühlampen blendeten aus den Kassetten
der Decke und Emporen über den Raum, so gleißend und grell, daß
nur starke und gesunde Menschen die Lichtflut ertragen konnten. Die
Pariser Modekünstler hatten für diesen Winter kleine venezianische
Häubchen lanciert, die die Damen auf den Frisuren, etwas nach hinten
gerückt, trugen. Gespinste, Spinngewebe aus Spitzen, Silber, Gold, mit
Borden, Quasten, Gehängsel aus den kostbarsten Materialien, Perlen und
Diamanten. Da aber die Fächer unausgesetzt vibrierten und die Köpfe
stets in leichter Bewegung waren, so glitt fortwährend ein Glitzern
und Flimmern über das dichtgedrängte Parkett, und hundertfach sprühten
gleichzeitig an verschiedenen Stellen die Feuer der Brillanten auf.
 
Über diese Gesellschaft, ebenso neu und prunkvoll wie der Konzertsaal,
fegte die Musik der alten, längst vermoderten Meister dahin ...
 
Der Ingenieur Mac Allan hatte mit seiner jungen Frau, Maud, eine kleine
Loge dicht über dem Orchester inne. Hobby, sein Freund, der Erbauer des
neuen Madison-Square-Palastes, hatte sie ihm zur Verfügung gestellt und
Allan kostete diese Loge keinen Cent. Er war zudem nicht aus Buffalo,
wo er eine Fabrik für Werkzeugstahl besaß, hierhergekommen, um Musik
zu hören, für die er gar kein Verständnis hatte, sondern um eine zehn
Minuten lange Unterredung mit dem Eisenbahnmagnaten und Bankier Lloyd,
dem mächtigsten Mann der Vereinigten Staaten und einem der reichsten
Männer der Welt, zu führen. Eine Unterredung, die für ihn von der
allergrößten Bedeutung war.
 
Am Nachmittag, im Zuge, hatte Allan vergebens gegen eine leichte
Erregung gekämpft, und noch vor wenigen Minuten, als er sich durch
einen Blick überzeugte, daß die Loge gegenüber, Lloyds Loge, noch leer
war, hatte ihn die gleiche sonderbare Unruhe angefallen. Nun aber sah
er den Dingen wieder mit vollkommener Ruhe entgegen.
 
Lloyd war nicht da. Lloyd kam vielleicht überhaupt nicht. Und selbst
wenn er kam, so war damit noch nichts entschieden -- trotz Hobbys
triumphierender Depesche!
 
Allan saß da, wie ein Mann, der wartet und die nötige Geduld dazu
hat. Er lag in seinem Sessel, die breiten Schultern gegen die Lehne
gedrückt, die Füße ausgestreckt, so gut es in der Loge ging, und sah
mit ruhigen Augen umher. Allan war nicht gerade groß, aber breit
und stark gebaut wie ein Boxer. Sein Schädel war mächtig, mehr
viereckig als lang, und die Farbe seines etwas derben bartlosen
Gesichts ungewöhnlich dunkel. Selbst jetzt im Winter zeigten seine
Backen Spuren von Sommersprossen. Wie alle Welt trug er das Haar
sorgfältig gescheitelt; es war braun, weich und schimmerte an den
Reflexen kupferfarben. Allans Augen lagen verschanzt hinter starken
Stirnknochen; sie waren licht, blaugrau und von gutmütig kindlichem
Ausdruck. Im ganzen sah Allan aus wie ein Schiffsoffizier, der gerade
von der Fahrt kam, vollgepumpt mit frischer Luft, und heute zufällig
einen Frack trug, der nicht recht zu ihm paßte. Wie ein gesunder,
etwas brutaler und doch gutmütiger Mensch, nicht unintelligent, aber
keineswegs bedeutend.
 
Allan vertrieb sich die Zeit, so gut er konnte. Die Musik hatte
keine Macht über ihn und anstatt seine Gedanken zu konzentrieren und
zu vertiefen, zerstreute und verflüchtigte sie sie. Er maß mit den
Blicken die Dimensionen des ungeheuren Saales aus, dessen Decken-
und Logenringkonstruktion er bewunderte. Er überflog das flimmernde,
vibrierende Fächermeer im Parkett und dachte, daß "viel Geld in den
Staaten sei und man hier so etwas unternehmen könne, wie er es im
Kopf hatte". Als praktisch veranlagter Mensch unternahm er es, die
stündlichen Beleuchtungskosten des Konzertpalastes abzuschätzen. Er
einigte sich auf rund tausend Dollar und verlegte sich hierauf auf das
Studium einzelner Männerköpfe. Frauen interessierten ihn gar nicht.
Dann streifte sein Blick wiederum die leere Loge Lloyds und tauchte
in das Orchester hinab, dessen rechten Flügel er übersehen konnte.
Wie alle Menschen, die nichts von Musik verstehen, verblüffte ihn die
maschinelle Exaktheit, mit der das Orchester arbeitete. Er rückte ein
wenig vor, um den Dirigenten zu sehen, dessen stabführende Hand und
dessen Arm nur zuweilen über der Brüstung erschienen. Dieser hagere,
schmalschulterige, distinguierte Gentleman, dem sie für diesen Abend
sechstausend Dollar bezahlten, war Allan vollends ein Rätsel. Er
beobachtete ihn lange und aufmerksam. Schon das Äußere dieses Mannes
war ungewöhnlich. Sein Kopf, mit der Hakennase, den kleinen, lebendigen
Augen, dem zusammengekniffenen Mund und den dünnen, nach rückwärts
stehenden Haaren erinnerte an den eines Geiers. Er schien nur Haut und
Knochen zu sein und nichts als Nerven. Aber er stand ruhig inmitten
des Chaos von Stimmen und Lärm und ordnete es nach Belieben mit einem
Wink seiner weißen, anscheinend kraftlosen Hände. Allan bewunderte ihn,
etwa wie einen Zauberer, in dessen Macht und Geheimnisse einzudringen
er nicht einmal den Versuch machte. Dieser Mann schien ihm einer
fernen Zeit und einer sonderbaren, unverständlichen, fremden Rasse
anzugehören, die dem Aussterben nahe war.
 
Gerade in diesem Augenblick aber streckte der hagere Dirigent die Hände
in die Höhe, schüttelte sie wie in Raserei, und in den Händen schien
plötzlich eine übermenschliche Kraft zu wohnen: das Orchester brandete
auf und verstummte mit einem Schlag.
 
Eine Lawine von Beifall rollte durch den Saal, hohl tobend in der
ungeheuren Ausdehnung des Raumes. Allan rückte aufatmend zurecht, um
aufzustehen. Aber er hatte sich getäuscht, denn drunten leiteten die
Holzbläser schon das Adagio ein. Aus der Nebenloge drang noch das Ende
eines Gesprächs herüber... "...zwanzig Prozent Dividende, Mann! Es
ist ein Geschäft, wie es glänzender..."
 
Und Allan war gezwungen, wieder ruhig zu sitzen. Er begann abermals
die Konstruktion der Logenringe zu studieren, die ihm nicht ganz
verständlich war. Allans Frau dagegen, selbst angehende Pianistin,
ergab sich mit ihrem ganzen Wesen der Musik. An der Seite ihres
Gatten erschien Maud zart und klein. Sie hatte den feinen braunen
Madonnenkopf in den weißen Handschuh gestützt, und ihr transparent
leuchtendes Ohr _trank_ die Tonwellen, die von unten herauf, von oben
herab, von irgendwoher kamen. Die ungeheure Vibration, mit der die
zweihundert Instrumente die Luft erfüllten, erschütterte jeden Nerv an
ihrem Körper. Ihre Augen waren geweitet und ohne Blick in die Ferne
gerichtet. So stark war ihre Erregung, daß auf ihren zarten, glatten
Wangen kreisrunde rote Flecke erschienen.

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