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Aristoteles Poetik in der Neuzeit

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Es ist ein seltsames Zusammentreffen, daß gerade um die Zeit, da die
Hegemonie des Philosophen Aristoteles, der die Gedankenwelt des
Mittelalters beherrscht hatte, sich ihrem Ende zuneigte, seine Poetik
aus langer Vergessenheit im Abendlande wieder auftauchte und er nun
alsbald als literarischer Diktator, gleichsam als Ersatz für das
verlorene Reich, einen erneuten Siegeslauf antrat. Die Poetik erschien
zuerst in einer wörtlichen lateinischen Übersetzung des Georgius Valla
(1498), die editio princeps des Originals zehn Jahre später in einer
Aldina. Den ersten Kommentar lieferte F. Robortelli (Florenz l548),
dem innerhalb zwei Dezennien drei weitere gelehrte und umfangreiche
Kommentare folgten: Madius (Venedig 1550), P. Victorius (Florenz
1560) und Castelvetro (Wien 1570). Bis etwa zur Wende des 18. Jahrh.
waren bereits mehr als 100 Ausgaben und Übersetzungen erschienen -- die
Poetik wurde öfter als irgendein anderes Werk griechischer Prosa
herausgegeben,-- doch ist im wesentlichen, weder in der Textkritik noch
in der Erklärung, ein nennenswerter Fortschritt über die genannten
Leistungen zu verzeichnen. Ein solcher trat erst mit den Arbeiten (S.
XV) zweier Engländer, Twining (1789) und Tyrwhitt (1794) ein,
während Lessing etwas früher in der Hamburgischen Dramaturgie (1767/8)
das Studium der Poetik in Deutschland zu neuem Leben erweckte. Die erste
deutsche Übersetzung von Curtius (1755) war nämlich als solche sehr
kläglich ausgefallen und die ihr beigegebenen Abhandlungen waren ganz
von Dacier (1692) abhängig und in Gottschedschem Geiste geschrieben
Sie hat aber insofern ein gewisses historisches Interesse, weil sowohl
Goethe wie Schiller die aristotelische Schrift aus ihr kennen
lernte. Eine neue Epoche sowohl für die Textkritik wie für die Erklärung
begann dann erst wieder mit Vahlen, der zuerst konsequent die Recensio
auf die älteste Hs, den Parisinus 1741 (A^c), aufbaute und in
seinen "Beiträgen zu Aristoteles Poetik" ("Wien 1865/6), einer der
hervorragendsten hermeneutischen Leistungen unserer Wissenschaft, das
Verständnis der Poetik mächtig förderte. Mehr negativ von Bedeutung war
sodann die glänzende Abhandlung von J. Bernays (1857) über die
Katharsis da sie der Ausgangspunkt einer gewaltigen Kontroverse wurde,
die bis auf den heutigen Tag noch nicht zur Ruhe gekommen ist.
 
Etwa gleichzeitig mit jenen vier großen italienischen Kommentatoren des
16. Jahrh. begann die literarische Kritik sich mit den Lehren der
Schrift zu beschäftigen, wobei der Einfluß des Castelvetro besonders
verhängnisvoll werden sollte, denn das berühmte Gesetz der "Drei
Einheiten," der Handlung, der Zeit und des Ortes, von denen
Aristoteles einzig und allein die erste kennt und fordert, beruht auf
einem Mißverständnis des Castelvetro. Sogenannte "Poetiken" sprangen
vom 16. Jahrh. wie Pilze aus dein Boden. Samt und sonders nehmen sie zu
den wirklichen, leider zu oft auch zu den vermeintlichen Lehren des
Aristoteles (S. XVI) Stellung und gar bald versuchten epische und
dramatische Dichter, zuerst in Italien, dann in Frankreich jene Lehren
praktisch zu verwerten. Unter den Kritikern und Verfassern von
Lehrbüchern der Dichtkunst des 16. Jahrh. seien hier nur die
einflussreichsten genannt, was aber keineswegs immer besondere
Originalität oder Selbständigkeit voraussetzt: _Minturno_, De poeta
(1559), J.C. Scaliger, Poetices libri VII (1561),[3] Sir Philip
Sidney, Defense of Poesy (c. 1583, gedruckt 1595), Patrizzi, Della
Poetica (1586), ein fanatischer Gegner des Aristoteles und seiner
Poetik. Von Dichtern, die unter dem Einfluß des Aristoteles standen
und in eigenen Abhandlungen oder auch in Einleitungen zu ihren Werken
sich mit ihm auseinandersetzten, seien erwähnt: Trissino, dessen
"Sophonisba" als die erste italienische Tragödie gilt (1555),
Fracastoro, Naugerius sive de Poetica dialogus (1555), T. Tasso,
Discorsi dell' Arte Poetica (1586), Jean de la Taille, Préface zu Saul
(1572). Dieser und die früheren französischen Kritiker überhaupt wie
Jodelle, der Verfasser der ersten französischen Tragödie, Cleopâtre
(1552), Vauquelin de la Fresnaye, Art poetique (begonnen 1574,
gedruckt 1605), Ronsard und die anderen Mitglieder der Pléiade, sie
alle beschäftigten sich mehr oder weniger eingehend mit den
aristotelischen Lehrsätzen, aber sie verdankten deren Kenntnis, wie es
scheint, meist nicht dem Original, sondern den Arbeiten ihrer
italienischen Vorgänger. Dies änderte sich erst im 17. Jahrh., als der
heftige Streit um die "Regeln" in den Mittelpunkt des literarischen
Interesses trat. Mairet, der die erste "regelrechte" Tragödie,
"Sophonisbe", (1629) verfaßte, kannte die (S. XVII) Poetik aus erster
Hand, wie er selbst in der Vorrede zu "Silvanire" (1626) bezeugt, und
dies gilt natürlich auch von den Führern in der Cid-Kontroverse
(1636 -1640), wie Chapelain und Hedelin d'Aubignac. Corneille
selbst aber scheint sie erst am Ende seiner dramatischen Laufbahn aus
erster Hand kennen gelernt zu haben, obwohl er in einigen früheren
Vorreden zu seinen Dramen wiederholt auf Aristoteles Bezug nimmt. In
seinen drei "Discours" macht er sodann den freilich vergeblichen Versuch
nachzuweisen, daß seine Tragödien den Lehren der Poetik allenthalben
entsprechen.
 
Engländern wurde die Poetik durch die Italiener und Franzosen
vermittelt, doch spielte sie bei ihnen nie eine so große Rolle, und auch
diese beschränkte sich fast ausschließlich auf jene drei "Einheiten."
Daß Shakespeare diese kannte, geht aus der Ansprache an die
Schauspieler im Hamlet, den Prologen zu Heinrich V. und dem "Chorus" der
Zeit im Wintermärchen (IV(1)) hervor. Da er sich sonst ihnen gegenüber
noch weit gleichgültiger verhält als seine dramatischen Zeitgenossen
(ein Marlow, Jonson, Greene, Beaumont und Fletcher), so möchte ich
doch hier nicht unterlassen, wenigstens auf eine interessante Tatsache
hinzuweisen, weil sie bisher m.W. nicht beobachtet worden ist. Die
beiden letzten Dramen aus seiner Feder sind das "Wintermärchen" und
der "Sturm." Während nun in dem ersteren die "Einheiten" weit gröblicher
verletzt werden als in irgend einem anderen Stücke, hat er diese im
"Sturm" und in ihm allein so streng wie nur irgend möglich durchgeführt.
Sollte er damit haben zeigen wollen, daß für den wahren Dramatiker die
Einhaltung oder die Vernachlässigung der Regeln," (S. XVIII) soweit die
Wirkung in Betracht kommt, gleichgültig ist? Um die Mitte des 17. Jahrh.
haben dann Milton, in der Einleitung zu seiner Tragödie "Samson
Agonistes" (1671), und insbesondere Dryden, namentlich in seinem
"Essay über dramatische Poesie" (1668), der aristotelischen Poetik ein
besonderes Interesse zugewandt, letzterer allerdings ganz unter dem
Einfluß von Corneille Rapin, de Bossu und Boileau.
 
Die Beschäftigung mit unserer Poetik in Deutschland beginnt, wie
erwähnt, mit Lessing. Goethe_ und durch ihn veranlaßt auch Schiller
(nach 1797) haben sich lebhaft mit ihr befaßt. In ihrem
Gedankenaustausch über die Schrift spiegelt sich die Eigenart der beiden
Dichterfürsten in charakteristischer Weise wieder, doch hat man die
Empfindung, daß in diesem Briefwechsel Schiller durchaus der Gebende
ist. Noch wenige Jahre (1826) vor seinem Tode ist Goethe in seiner
ganz kurzen "Nachlese zur Poetik" nochmals auf den Gegenstand
zurückgekommen, worin er, wohl durch seine künstlerische Weltanschauung
verleitet, eine ganz falsche Übersetzung des Schlusses der
Tragödiendefinition gibt.
 
Im 19. Jahrh. ist es, von der mächtigen Wirkung der bereits erwähnten
Abhandlung von Bernays abgesehen, vor allem die Ästhetik, die sich
allenthalben mit unserer Poetik auseinandersetzt, so E. Müller,
Vischer, Volkelt, Günther, Walter, W. Dilthey, Lippe, Bosanquet,
Nietzsche, Baumgart und Carrière, um nur diese zu nennen. In den
Hauptfragen wie über den Ursprung der Poesie, den Begriff des
Kunstschönen, den Endzweck der Dichtung, sind manche dieser Forscher
zwar zu neuen und eigenartigen aber im großen und ganzen keineswegs
einwandfreieren oder sichereren Ergebnissen gelangt, als sie schon in
den kurzen, fast ohne Begründung hingeworfenen (S. XIX) Lehrsätzen des
Aristoteles uns vorliegen.

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